29.04.2025

Taiwan Today

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Rehabilitation für Sehbehinderte

01.03.1989
Übung macht den Meister - drei junge Masseure bei der Ausbildung.
Entlang der Hauptstraße von Taipei nach Taoyüan kommt man an den Industriestädten San-ch'ung und Hsinchuang vorbei. Mitten zwischen der verwirrenden Vielfalt von Reklameschildern und zahlreichen Kleinbetrieben liegt ein kleines und flaches Gebäude, das sich durch einen eigenen Vorgarten mit Blumen und Büschen deutlich von der ansonsten städtischen Umgebung abhebt. Es ist das Blindenrehabilitationsheim Taiwan (in Englisch: Taiwan Rehabilitation Institute for the Blind, 台灣盲人重建院), ein Rehabilitationszentrum für alle, die ihr Augenlicht verloren haben.

Die Anlage ist ähnlich wie traditionelle chinesische Häuser in einer viereckigen Atriumbauweise errichtet. Im Hauptgebäude befinden sich das Büro und die Blindendruckerei. Die Bücherei und die Klassenzimmer sind im rechten Flügel untergebracht. Die linke Seite beherbergt einen Aufenthaltsraum und den Speisesaal. Im hinteren Teil liegt ein zweigeschossiges Gebäude, das eine Werkstatt, ein Mädchenwohnheim und weitere Klassenzimmer enthält. Hinter dem Atrium wurde vor nicht allzu langer Zeit noch ein Gebäude errichtet, in dem Männerwohnheim, Aufenthaltsraum, Massageraum der Männer, Audiothek, und ein gut ausgestatteter Fitnessraum untergebracht sind. Das Institut beinhaltet alle zur Rehabilitation von Sehbehinderten nötigen Einrichtungen und Räumlichkeiten.

Die Studenten sind blinde Männer und Frauen, die unabhängig leben wollen. Kost, Unterbringung und Studium sind während der zwei Jahre dauernden Ausbildung frei. Das Alter der Schüler ist auf 16 bis 40 Jahre festgelegt, ansonsten werden bei der Aufnahme keine Einschränkungen in bezug auf Geschlecht oder Religion gemacht. Schüler, die ihr Augenlicht erst später im Leben verloren haben und nicht von Geburt aus blind waren, fällt das Training schwerer. In der Regel müssen sie eine Phase der Depression und Frustration über den Verlust des Augenlichts überwinden. Die Ursachen für die Erblindung sind vielfältig - von Krankheiten bis hin zu Unfällen.

Im ersten Jahr erhält der Schüler ein Basistraining, wobei er ausgebildet wird, Alltagsleben, Fortbewegung und Orientierung zu meistern. Viele der Schüler haben anfangs Schwierigkeiten, alltägliche Angelegenheiten zu bewältigen. Ihr Aussehen ist oft vernachlässigt und der Umgang mit offenem Licht und heißem Wasser bereitet Probleme, die einem "Sehenden" nicht vorstellbar sind. Die Institution bringt ihnen langsam bei, diese grundlegenden Tätigkeiten zu meistern.

Die Mobilitäts- und Orientierungsklassen sind darauf ausgerichtet, den Schülern beizubringen, sich in überfüllten Straßen ohne fremde Hilfe fortzubewegen. Deshalb befindet sich im Untergeschoß des rückwärtigen Gebäudes ein Übungsraum, in dem Modelle von Straßen, Kreuzungen und andere, das Leben der Blinden betreffende Lokalitäten nachgebildet werden können. Diese Modelle verhelfen dem Blinden, sich ein abstraktes Bild von der Umgebung, in der er sich bewegen will, zu ertasten. Später hilft dies dem Blinden vor Ort, ein Bild von der räumlichen Situation, in der er sich befindet, zu entwickeln. Im Garten des Instituts findet sich ein regelrechter Hindernisparkur, in dem der Blinde mühsam lernt, unwegsames Gelände zu meistern.

Mit zum Basistraining gehört die gezielte Ausbildung des Tastsinns als Grundlage, um die Blindenschrift lesen zu lernen. Damit verbunden ist das Studium des "Optacon", ein Gerät, mit dessen Hilfe Lochstreifen in Blindenschrift ausgedruckt werden können. Außerdem werden die Bedienung des Abakus, wissenschaftliche Facher und Gymnastik gelehrt. Da das Rehabilitationszentrum sehr gute Kontakte zu japanischen Blindenheimen unterhält, wurde für die Schüler japanischer Sprachunterricht mit in den Lehrplan aufgenommen. Mit Computerklassen hofft man sich neuesten Entwicklungen anzupassen. Ein Beratungsservice steht laufend zur Verfügung.

Um den Hindernisparkur meistern zu können, muß der Blinde sein gesamtes Geschick aufwenden.

Für die Blinden erweist sich die Zusammenarbeit mit Laienhelfern der nahegelegenen Fu Jen Universität als besonders effektiv. Ein spezieller studentischer Förderkreis an der Universität hat es sich zur Aufgabe gemacht, Zeitungen, Magazine und andere Publikationen auf Kassetten aufzunehmen, die dann der Audiothek des Rehabilitationszentrums zur Verfügung gestellt werden. In der Audiothek sind auch japanische und englische Unterrichtskassetten erhältlich.

Im zweiten Jahr wird der Schwerpunkt auf fachspezifische Ausbildung gelegt. Einige der Schüler erhalten ein besonderes Stimmtraining, um sie für eine Anstellung in der Telefonvermittlung zu qualifizieren. Auch werden Arbeiten an kleinen Maschinen, Schreinerei und Buchbinderei erlernt. Schwerpunkt in der Weiterbildung am Institut ist allerdings nach wie vor die Ausbildung zum Masseur. Die Schulung ist alles andere als einfach und es werden regelmäßig Prüfungen abgehalten, in denen die Kraft, die Massagetechnik und das Einfühlungsvermögen des Schülers in den Zustand des Patienten examiniert werden.

Seit seiner Gründung im Jahre 1951 hat das Institut bereits eine bewegte Geschichte hinter sich. Besonders in den Anfangsjahren waren die Probleme zahlreich, und da die Regierung zu dieser Zeit das Thema "Behinderung" als Privatsache des Einzelnen betrachtete, waren die öffentlichen Gelder spärlich. Der Hauptteil der Finanzen kam aus den Vereinigten Staaten, von der Amerikanischen Vereinigung für Blinde im Ausland (in Englisch: American Foundation for Overseas Blind). Doch begann diese Vereinigung wegen des Vietnamkriegs schrittweise die Gelder zu kürzen und stellte die Zahlungen schließlich ganz ein. Auf der Suche nach neuen Finanzierungsmöglichkeiten, trat Herr Tsung, der Leiter des Instituts, bei einer Konferenz in Indien an den Priester Friedrich Tegtmeyer von der Hildesheimer Blindenmission heran und trug ihm sein Anliegen vor. Wenige Monate später erkundete die Blindenmission die Situation und heute ist sie ein bedeutender Sponsor für das Institut. Auf ideologischem und technologischem Gebiet wird das Rehabilitationszentrum von einer weiteren, deutschen Organisation, der Christoffel Blindenmission unterstützt. Sie entsandte den australischen Blindenlehrer Thomas J. Blair hierher, um Lehrer in der Behindertenarbeit auszubilden. Herr Blair wurde auch später noch etliche Male zur Betreuung hierhergeschickt, wobei er wertvolle Hilfe leistete.

Auch die Förderung durch die Regierung hat im Laufe der letzten Jahre beträchtlichen Umfang angenommen. Seit der Aufhebung der Notstandsverordnung, und damit der Aufhebung des Kriegsrechts, fand in der Republik China ein tiefgreifender Pluralisierungsprozeß statt, in dem die Interessen unterschiedlichster Gruppen wahrgenommen wurden. Deshalb verabschiedete die Kuomintang in ihrem 13. Parteitag vom 4. bis zum 7. Juli 1988 neue Parteirichtlinien, die die Revidierung der Maßnahmen zur Förderung sozial schwacher Gruppen und Behinderter planen. Außerdem erhält die Einrichtung nun jährlich aus den Kassen der Landkreise und der Provinz selbst, beträchtliche Summen. Kreise und Städte leisteten technische Hilfe, indem sie in den Städten Taipei, Pan Chiao, Tao Yüan, und Chung Li anfingen, besonders belebte Kreuzungen mit Orientierungsstreifen und akustischen Signalen auszurüsten. Die Orientierungsstreifen sind speziell genoppt, so daß der Blinde den sicheren Weg beim Überqueren der Ampel ertasten kann. Auch auf dem Schulsektor kam die Regierung den Bedürfnissen der Sehbehinderten entgegen und hob erst kürzlich die beschränkte Zulassung von Blinden an die Hochschulen auf.

Der Leiter des Instituts, Herr Tsung Wen-shiong erweist sich als großzügiger Mensch, der bereitwillig über die verschiedenen Belange der Blindenarbeit spricht. Er selbst erhielt in Amerika eine Ausbildung zum Blindenunterricht. Später, zurück in der Republik China auf Taiwan, übersetzte er Material über die Rehabilitation und Ausbildung von Blinden und leistete damit wertvolle Pionierarbeit auf dem Feld der Behindertenarbeit in der Nation. Herr Tsung meint: "Ziel der Schulung hier ist die Unabhängigkeit des einzelnen in allen Aspekten des täglichen Lebens. Dauernde Bemitleidung und 'Overprotection', - der übersteigerten Fürsorge für einen Behinderten - helfen niemanden. Nur durch eine harte, gezielte Ausbildung gelingt es dem Einzelnen, sich trotz seiner Behinderung in dieser Welt zurechtzufinden. Viele der Blinden wagen aus Angst, dem Gespött in der Öffentlichkeit ausgesetzt und von Kindern verlacht zu werden, gar nicht einzugestehen, daß sie blind sind, geschweige denn, daß sie willens wären einen Blindenstock zu benutzen. Deshalb beginnen viele der Neulinge ihre Ausbildung depressiv und ohne Selbstvertrauen. Als ersten Schritt versucht die Einrichtung den Schüler seelisch aufzubauen und ihn dazu zu bewegen, sich zu seiner Behinderung zu bekennen. Wir erreichen während der Ausbildung, daß der Blinde seine Behinderung vollkommen vergißt."

Zwei Jahre werden die Schüler am Institut zum selbstständigen Leben geschult.

Traditionell gab es für Sehbehinderte in China nicht viele Möglichkeiten, ihr Leben zu gestalten. Im günstigsten Fall wurden sie von ihrer Familie mitversorgt oder von einem der in Tempelnähe zahlreich zu findenden, meist auch blinden Wahrsager, in der Kunst der Zukunftsvorhersage angelernt. Anderenfalls endete so mancher auch am Bettelstab, um sich sein tägliches Brot zu verdienen. Um dem ein Ende zu bereiten, wurde den Blinden vom Gesetzgeber seit Januar 1980 der für Sehbehinderte besonders geeignete Beruf des Masseurs als Erwerbsmöglichkeit gesichert. 70 Prozent der Schüler hier erlernen diese Betätigung und das Institut hat insgesamt schon über 500 Masseure ausgebildet. Als weiteren Anreiz für die Arbeitgeber zahlt die Regierung drei Prozent vom Gehalt eines jeden Blinden, der eingestellt wird.

"In Reporten wurde bewiesen, daß Sehbehinderte für Tätigkeiten in der Telephonvermittlung, an Bohr-, Drahtwickel- oder Stanzmaschinen oder als Verpacker durchaus qualifiziert sind. Die Unfallsquote liegt ebenfalls nicht höher als bei Arbeitnehmern ohne Behinderung. Doch viele Arbeitgeber glauben nicht an die Leistungsfähigkeit der Blinden oder sind sich über den Arbeitsstellenmangel der Blinden gar nicht im klaren. Wie im Westen blocken manche Arbeitgeber auch einfach ab, weil sie, ungewohnt im Umgang mit Behinderten, ihre 'Berührungsängste' nicht überwinden können." erklärt der Dekan und fährt fort: "Viele Unternehmer glauben oft, daß sie in ihrem Betrieb keine geeigneten Arbeitsplätze für Blinde hätten." Doch dieses Argument zählt für Tsung nicht. Oft geht er selbst vor Ort in die Fabrik und sucht nach einem für Blinde geeigneten Betätigungsfeld, wobei er in den seltensten Fällen erfolglos bleibt. Tsungs wichtigstes Argument bei der Verhandlung mit den Arbeitgebern, ist die hohe Arbeitsmoral seiner Zöglinge. Weit mehr als für ihre unbehinderten Kollegen bedeutet es für sie eine Herausforderung, der sie sich mit ganzer Kraft stellen.

Seinem Engagement ist es zu verdanken, daß heute eine ganze Reihe von Blinden in den unterschiedlichsten Berufssparten unterkommen. Anstellungen finden sich in Fabriken, in der Telefonvermittlung, Krankenhäusern und Versicherungsunternehmen. Das Institut plant, einige Schüler in Japan als Klavierstimmer ausbilden zu lassen, jedoch setzt dieser Beruf ein besonders begabtes Gehör voraus, das nicht jedem zu eigen ist. Die meisten Frauen am Institut heiraten bald nach ihrem Eintritt in das Berufsleben.

Probleme gibt es allerdings bei der Arbeitsvermittlung für Sehbehinderte mit akademischem Schulabschluß. Gegenwärtig gibt es an Taiwans Universitäten 32 blinde Studenten und 42 haben bereits einen Hochschulabschluß. Danach stehen die Chancen schlecht und Herr Tsung erwähnt, daß es ihm noch nicht gelang, einen blinden Akademiker mit einer, seiner Schulbildung angemessenen Arbeitsstelle, zu versorgen. In Amerika finden sehbehinderte Hochschulabgänger oft eine Anstellung im Lehrberuf. So gibt es alleine in Kalifornien über 300 blinde Lehrer.

Hat sich eine Arbeitsstelle gefunden, gibt es noch eine ganze Reihe Aufgaben zu bewältigen. Zuerst muß sich der Neuling orientieren. Das schließt den Weg zum Arbeitsplatz und die wichtigsten Strecken in der Firma mit ein. Als nächstes muß er sich die Telefonnummern, der für die mit seinem Arbeitsgebiet wichtigen Kunden oder Abteilungen merken. Dieser Orientierungsprozeß nimmt etwa drei Tage in Anspruch. Ein Lehrer des Instituts weist ihn zu guter Letzt noch in den Arbeitsplatz ein und lehrt ihn die nötigen Handgriffe. Doch auch in den darauffolgenden Monaten wird der neu vermittelte Arbeiter weiterhin von der Institution betreut und unterstützt.

Freilich ist das Rehabilitationszentrum nur ein erster kleiner Schritt zur Integration von Behinderten in der Republik China und sowohl die Blinden als auch die Lehrer und die Anstaltsleitung wissen, daß noch viel zu tun bleibt. Doch in der Regel stellt das Institut eine unersetzliche Hilfe auf dem oft harten und steinigen Weg durch die Welt der "Sehenden" dar.

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